Eine Fahrerlaubnis darf nicht schon deshalb entzogen werden, weil ein nach drei Geschwindigkeitsübertretungen geforderte medizinisch-psychologische Gutachten (MPG) nicht vorgelegt wurde, hat das Verwaltungsgericht Neustadt entschieden. Demnach muss die Fahrerlaubnisbehörde in solchen Fällen ausführen, warum sie ein MPG aus besonderen Einzelfallgründen für notwendig hält.
Dreimal zu schnell – darum geht es
Der Antragsteller ist seit 2008 im Besitz der Fahrerlaubnis der Klasse B. Er wurde im Zeitraum Februar 2015 bis Mai 2016 wegen der folgenden Geschwindigkeitsüberschreitungen belangt: am 06.02.2015 Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften von 70 km/h um 34 km/h nach Toleranzabzug, am 14.12.2015 Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften von 100 km/h um 23 km/h nach Toleranzabzug auf einer BAB, am 13.05.2016 Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften von 120 km/h um 56 km/h nach Toleranzabzug auf einer BAB.
Nach Bekanntwerden dieser Tatsachen verlangte die Stadt Ludwigshafen am Rhein (im Folgenden: Antragsgegnerin) am 07.10.2016 von dem Antragsteller die Beibringung eines Gutachtens einer amtlich anerkannten medizinisch-psychologischen Untersuchungsstelle, um bestehende Zweifel an der Fahreignung des Antragstellers auszuräumen. Hiermit war der Antragsteller zunächst einverstanden und unterzog sich einer entsprechenden Untersuchung. Das Gutachten legte er dann aber mit der Begründung nicht vor, dieses leide an elementaren Mängeln.
Daraufhin entzog die Antragsgegnerin dem Antragsteller mit Bescheid vom 03.01.2017 unter Anordnung der sofortigen Vollziehung die Fahrerlaubnis. Der Antragsteller legte dagegen Widerspruch ein und suchte um vorläufigen gerichtlichen Rechtsschutz nach. Zur Begründung führte er aus: Die Fahrerlaubnisentziehung sei rechtswidrig, weil schon die Anordnung der Antragsgegnerin zur Beibringung eines MPG unverhältnismäßig gewesen sei. Er habe drei Ordnungswidrigkeiten wegen Geschwindigkeitsüberschreitungen begangen. Davon hätten sich zwei Übertretungen im unteren Bereich bewegt. Es liege kein Fall eines wiederholten und erheblichen, gegen verkehrsrechtliche Vorschriften eingetretenen Verstoßes vor, der seine Kraftfahreignung in Frage stelle.
Wesentliche Entscheidungsgründe
Das Gericht hat dem Eilantrag stattgegeben. Zur Begründung haben die Richter ausgeführt: Die angefochtene Entziehung der Fahrerlaubnis begegne durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Die Antragsgegnerin habe ihre Entscheidung vom 03.01.2017 zu Unrecht darauf gestützt, dass der Antragsteller das angeordnete MPG zum Nachweis seiner Fahreignung nicht innerhalb der ihm gesetzten Frist beigebracht habe.
Denn die auf § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 der Fahrerlaubnisverordnung (FeV) gestützte Gutachtensanforderung sei nicht rechtmäßig gewesen. Nach dieser Vorschrift könne bei einem erheblichen Verstoß oder wiederholten Verstößen gegen verkehrsrechtliche Vorschriften die Beibringung eines MPG zur Klärung von Eignungszweifeln angeordnet werden. Der Antragsteller habe unstreitig wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften verstoßen.
Die Regelung des § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 FeV stehe aber in einem Spannungsverhältnis zu § 4 Straßenverkehrsgesetz (StVG), wonach die Fahrerlaubnisbehörde zum Schutz vor den Gefahren, die von wiederholt gegen Verkehrsvorschriften verstoßenden Fahrzeugführern ausgingen, die in § 4 Abs. 5 StVG genannten Maßnahmen (Speicherung von Punkten, Ermahnung, Verwarnung, Entziehung der Fahrerlaubnis) zu ergreifen habe.
Das Fahreignungs-Bewertungssystem beinhalte die Bewertung von Verkehrszuwiderhandlungen mit einer nach Art und Schwere der Verstöße festgelegten Punktzahl und das Ergreifen abgestufter Maßnahmen der Fahrerlaubnisbehörde bei Erreichen oder Überschreiten bestimmter Punkteschwellen. Es bezwecke eine Vereinheitlichung der Behandlung von Mehrfachtätern und solle dem Betroffenen Gelegenheit geben, aufgetretene Mängel durch Teilnahme an Fahreignungsseminaren möglichst frühzeitig zu beseitigen.
Das abgestufte System rechtfertige die Annahme, dass Personen, die acht oder mehr Punkte erreicht hätten, als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen anzusehen seien. Aus dem Fahreignungs-Bewertungssystem ergebe sich damit, dass der Gesetzgeber bewusst die weitere Straßenverkehrsteilnahme von Kraftfahrern mit einem nicht unerheblichen „Sündenregister“, weil mehrfach gegen Verkehrsvorschriften verstoßen worden sei, in Kauf genommen habe.
Das Ergreifen anderer Maßnahmen gegen den Fahrerlaubnisinhaber wegen Eignungszweifeln, die sich aus den im Fahreignungs-Bewertungssystem erfassten Verkehrsverstößen ergäben, sei zwar nicht ausgeschlossen. Dadurch werde im öffentlichen Interesse sichergestellt, dass ungeeignete Kraftfahrer schon vor Erreichen von acht Punkten im Fahreignungsregister von der Teilnahme am motorisierten Straßenverkehr wirksam ausgeschlossen oder besondere Eignungszweifel durch weitergehende Maßnahmen, wie z. B. eine medizinisch-psychologische Untersuchung, sofort geklärt werden könnten.
Allerdings müsse dies auf eng begrenzte, besonders gelagerte Ausnahmefälle beschränkt sein. Die Fahrerlaubnisbehörde müsse präzise begründen, warum sie es aus besonderen Gründen im Einzelfall, der sich erheblich vom Normalfall anderer „Punktesünder“ abheben müsse, aufgrund einer Würdigung der Gesamtpersönlichkeit des Kraftfahrers oder wegen der Art, der Häufigkeit oder des konkreten Hergangs der Verkehrsordnungswidrigkeiten für unerlässlich halte, die Fahreignungsbedenken sofort durch eine medizinisch-psychologische Untersuchung zu klären, ohne dem Betroffenen die Chance zu belassen, zuvor das unter der Geltung des Fahreignungs-Bewertungssystems stark reduzierte Hilfsangebot des § 4 StVG wahrzunehmen.
Besondere und einzelfallbezogene andere Erkenntnisse, die ein Abweichen von dem Fahreignungs-Bewertungssystem im vorliegenden Fall rechtfertigen würden, habe die Antragsgegnerin in ihrer Aufforderung zur medizinisch-psychologischen Begutachtung des Antragstellers nicht aufgezeigt.
Da die Voraussetzungen für ein Abweichen von dem Bewertungssystem des § 4 StVG nicht vorlägen, greife hier das Regime des Fahreignungs-Bewertungssystems. Danach sei der Antragsteller, zu dessen Lasten im Fahreignungsregister vier Punkte eingetragen seien, schriftlich zu ermahnen und darauf hinzuweisen, dass ein Fahreignungsseminar freiwillig besucht werden könne, um das Verkehrsverhalten zu verbessern.
Gegen den Beschluss ist das Rechtsmittel der Beschwerde zum Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz zulässig.
Verwaltungsgericht Neustadt, Beschl. v. 21.03.2017 – 3 L 293/17.NW
Quelle: Verwaltungsgericht Neustadt, Pressemitteilung v. 27.03.2017